Islam: Was ist die Scharia? (2024)

Erklärt

Die Taliban haben versichert, die Rechte von Frauen und Minderheiten zu achten – sofern ihr Verhalten im Einklang mit der Scharia stehe. Was dies bedeutet, ist offen. Denn die Gebote des islamischen Rechts sind nicht eindeutig definiert, sondern Interpretationssache.

Islam: Was ist die Scharia? (1)

Inhaltsverzeichnis

  • Was ist die Scharia? Woraus leitet sie sich ab?
  • Wer interpretiert die Scharia? Wer setzt sie durch?
  • Wie gehen muslimische Länder mit der Scharia um?
  • Warum ist die Scharia heute so umstritten?
  • Was sagt die Scharia zum Thema Frauen?
  • Wie haben die Taliban die Scharia bisher interpretiert?
  • Welchen Einfluss wird die Scharia künftig in Afghanistan haben?

Was ist die Scharia? Woraus leitet sie sich ab?

Die Scharia ist das Rechtssystem des Islam. Sie umfasst die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen des Islam. Dazu gehören Strafgesetze ebenso wie Essensvorschriften, Kleiderregeln oder rituelle Gebote. Ihre wichtigsten Grundlagen sind der Koran und die Sunna, welche die Überlieferungen («hadith») aus dem Leben des Propheten Mohammed enthält. Das Wort «Scharia» ist abgeleitet vom arabischen Verb «schara’a» (den Weg weisen, vorschreiben) und wird übersetzt als «der deutlich gebahnte Weg» oder «der Weg zur Tränke».

Gott (Allah) gilt in diesem Rechtssystem als oberster Gesetzgeber. Die göttliche Offenbarung im Koran ist dessen Grundlage. Bei der Scharia handelt es sich aber nicht um ein unveränderliches Rechtssystem, das in einem Gesetzbuch kodifiziert ist, sondern um eine nicht eindeutig definierte oder abgegrenzte Sammlung aus Vorschriften, Verboten und Empfehlungen, die sich stets im Wandel befindet. Die Scharia lässt sich deshalb nur im jeweiligen Umfeld verstehen.

Wer interpretiert die Scharia? Wer setzt sie durch?

Der Koran und die Sunna enthalten zu vielen Fragen keine klaren und eindeutigen Gebote. Vielmehr sind die Aussagen der Schriften oft mehrdeutig und erscheinen in einigen Fällen geradezu widersprüchlich. Sie bedürfen daher der Interpretation. Die Auslegung der Schriften sowie die Rechtsprechung sind im Islam traditionell Aufgabe der Rechtsgelehrten («ulema»), die an Religionsseminaren in islamischem Recht («fiqh») geschult werden und die Befugnis haben, Gutachten («fatwa») zu religiösen und rechtlichen Fragen zu erlassen.

Über die Jahrhunderte hat sich ein riesiger Korpus an Schriften zur Auslegung des Koran und der Sunna entwickelt. Eine einheitliche Rechtspraxis gibt es nicht. Vielmehr haben sich bei Sunniten wie Schiiten verschiedene Rechtsschulen herausgebildet, deren Methodik und Rechtsprechung sich stark unterscheiden. Einige lassen relativ viel Freiraum bei der Auslegung der Quellen, andere dagegen bestehen auf einer buchstabengetreuen Anwendung der Schriften.

Wie gehen muslimische Länder mit der Scharia um?

Die Scharia spielt in vielen islamisch geprägten Staaten eine Rolle als Quelle der Gesetzgebung, doch gibt es grosse Unterschiede. Während in Iran, Saudiarabien, Pakistan, Afghanistan (unter der bisherigen Verfassung) oder dem Sultanat Brunei alle Gesetze im Einklang mit der Scharia stehen müssen, spielt sie in anderen Staaten bei der Gesetzgebung nur eine Nebenrolle. Doch selbst in säkularen Staaten wie Tunesien oder der Türkei hat die Scharia das Familienrecht beeinflusst, das Fragen von Heirat, Scheidung, Erbe und Sorgerecht regelt.

Ein Problem bei der Anwendung der Scharia ist, dass viele ihrer Gebote im Widerspruch stehen zu den Menschenrechten sowie den darauf basierenden internationalen Konventionen. Regeln wie das Zinsverbot des Islam sind zudem nur schwer mit einer kapitalistischen Wirtschaft vereinbar. Auch schweigt der Koran zu vielen Problemen der modernen Gesellschaft. Selbst Iran hat daher in der Praxis den Anspruch aufgeben müssen, sich allein an der Scharia zu orientieren.

Warum ist die Scharia heute so umstritten?

Viele Gebote der Scharia muten heute grausam, archaisch und aus der Zeit gefallen an. Besonders in der Kritik stehen die sogenannten Körperstrafen, die etwa Steinigung bei Ehebruch oder Handabhacken bei Diebstahl vorsehen. Auch die Verhängung der Todesstrafe bei Apostasie, also dem Abfall vom Glauben, widerspricht den Menschenrechten. In Iran, Saudiarabien und einigen anderen Ländern können diese Strafen noch immer verhängt werden, doch werden sie wegen der heftigen internationalen Kritik nur in Ausnahmen vollstreckt.

Liberale Islamgelehrte haben unter Anwendung einer historisch-kritischen Lesart des Koran argumentiert, dass diese Gebote im Kontext des 7.Jahrhunderts verstanden werden müssten und heute nicht mehr eins zu eins angewandt werden könnten. Auch gab es Versuche, zu einer Auslegung der Schriften im Einklang mit den Menschenrechten zu gelangen. Unter der Mehrheit der islamischen Gelehrten findet die historisch-kritische Lesart aber bis heute kaum Anklang.

Was sagt die Scharia zum Thema Frauen?

Viele Gebote der Scharia sind diskriminierend für Frauen, gerade bei wichtigen Fragen wie Erbe, Heirat, Scheidung und Sorgerecht. So hat die Frau im Gegensatz zum Mann gemäss der traditionellen Auslegung der Schriften nur Anspruch auf die Hälfte des Erbes. Auch ist ihre Aussage vor Gericht nur halb so viel wert. Im Verständnis konservativer Gelehrter ist die Frau dem Mann grundsätzlich untergeordnet und als Tochter, Mutter und Ehefrau abhängig von ihrem Vater, ihrem Ehemann und anderen männlichen Verwandten.

Für Diskussionen sorgen seit Jahrzehnten die Kleidervorschriften des Islam. Der Koran fordert Frauen zwar auf, «ihre Scham zu bedecken», schreibt aber nicht explizit vor, den Kopf oder gar das Gesicht zu bedecken. Dennoch gilt das Kopftuch im Islam für Frauen allgemein als Pflicht. Ein Tragen eines Gesichtsschleiers halten die meisten Gelehrten dagegen nicht für zwingend. Ebenfalls umstritten ist, wie weit eine Geschlechtertrennung islamisch geboten ist.

Wie haben die Taliban die Scharia bisher interpretiert?

Während ihrer letzten Herrschaft über das Land zwischen 1996 und 2001 hatten die Taliban eine sehr strenge Version der Scharia umgesetzt, die von der indischen Deobandi-Schule geprägt war. Fernsehen, Kino und Musik waren strengstens verboten. Ebenso westliche Kleidung. Männer mussten lange Bärte tragen, Frauen eine Burka, die das Gesicht und den Körper komplett verhüllt. Mädchenschulen wurden geschlossen. Frauen durften nicht mehr arbeiten und nicht einmal mehr ohne einen männlichen Verwandten das Haus verlassen.

Um Kriminalität und Korruption einzudämmen, wurde zudem ein grausames Strafregime eingeführt. Dieben wurden Hände abgehackt. Verurteilte Mörder oder Ehebrecher wurden öffentlich hingerichtet. Frauen, die sich in den Augen der Mullahs unsittlich benahmen, wurden ausgepeitscht oder gar gesteinigt. Schiiten wurden von den sunnitischen Taliban als «Ungläubige» verfolgt. Ihre harte Auslegung der Scharia war aber auch in Afghanistan umstritten und wurde von vielen Gelehrten als exzessiv abgelehnt.

Welchen Einfluss wird die Scharia künftig in Afghanistan haben?

Die Taliban-Führung hat sich in ersten Stellungnahmen nach der Einnahme von Kabul um ein gemässigteres Image bemüht. Die Rechte der Frauen würden respektiert, versicherte ihr Sprecher. Frauen könnten weiterhin arbeiten, Mädchen zur Schule gehen, solange ihr Verhalten im Einklang mit der Scharia stehe. Wie die Taliban das islamische Recht aber zu interpretieren gedenken, haben sie bisher offengelassen. Erste Berichte über den Umgang der Taliban mit Frauen und Angehörigen der schiitischen Minderheit sind widersprüchlich.

Die Taliban wurden selbst überrascht von ihrem schnellen Erfolg. Sie haben noch keine sehr klaren Vorstellungen, wie sie sich als Regierung zu wichtigen politischen und gesellschaftlichen Fragen stellen wollen. Die Führung will kein isoliertes und unpopuläres Paria-Regime mehr. Die Taliban wollen internationale Anerkennung und Unterstützung. Die Kämpfer an der Basis sind aber deutlich jünger und haben die neunziger Jahre oft nicht bewusst erlebt. Viele von ihnen vertreten radikalere ideologische Positionen. Die Führung wird es sich deshalb gut überlegen, ob sie sich ideologisch öffnen kann, ohne eine Fragmentierung der Bewegung zu riskieren. Es kann gut sein, dass die Taliban zunächst gemässigtere Positionen einnehmen, dann aber mehr und mehr Restriktionen einführen. Insbesondere, was die Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten angeht, ist wohl wenig Mässigung zu erwarten.

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